Die Geschichte des ungarischen Volkes – der Magyaren – geht mehr als 1.000 Jahre zurück: Angeführt von Großfürst Árpád wanderten die Magyaren im 9. Jahrhundert ins Karpatenbecken ein und hatten zum damaligen Zeitpunkt bereits ein paar Kilometer hinter sich gebracht. Ihrer Sprache zufolge gehören sie zu den finno-ugrischen Völkern, die ursprünglich in Westsibirien, irgendwo zwischen Uralgebirge und dem Fluss Ob siedelten. Da scheint es nicht verwunderlich, dass in der langen und spannenden Geschichte der Ungarn einige Mythen und Legenden zu finden sind. So auch die des sagenumwobenen Turuls, der eines der ältesten und bedeutendsten Symbole der Magyaren darstellt und der bis in die Gegenwart hinein präsent ist.
Bedeutung und Darstellung des Turuls
Beim Turul handelt es sich um einen Vogel, der als eine Mischung aus Adler und Falke beschrieben wird und außergewöhnlich große Flügel besitzt. Dabei ist nicht eindeutig geklärt, ob es sich beim ihm auch ursprünglich um ein Fabelwesen oder um ein wirklich existierendes Tier handelte. Klar scheint in jedem Fall zu sein, dass der Turul ein Raubvogel ist, der den Magyaren in ihren Unternehmungen seit jeher als Wächter und Beschützer zur Seite stand. Er repräsentiert Kraft, Ausdauer und Freiheit.
Was bis zum heutigen Tag ebenfalls nicht eindeutig geklärt ist: woher der komische ungarische Vogel seinen Namen hat. Ausgegangen wird davon, dass das Wort Turul aus dem Alttürkischen stammt. Und warum auch nicht. Die Magyaren sind schließlich weit gereist. Zumal die Verbindung zum Alttürkischen auch vor dem Hintergrund plausibel ist, dass große Vögel zur Zeit der Reise der Magyaren aus Westsibirien ins Karpatenbecken Gegenstand von Sagen im asiatischen Raum waren.
Häufig mit einer Krone und einem Schwert ausgestattet, kommt der Turul mádar, wie er im Ungarischen genannt wird, seit dem frühen Mittelalter auf Wappen und in Kunstwerken der Magyaren vor. Schwere Zeiten hat der Vogel – mádar – allerdings auch schon hinter sich. So geriet er seit der Landnahme der Ungarn im Karpatenbecken zunächst immer mehr in Vergessenheit, bis Europa im späten 19. Jahrhundert eine Welle des Nationalismus erlebte und sich die einzelnen Staaten wieder verstärkt auf ihre Kultur und Geschichte besannen. Seither erfreut sich der Turul einer bislang ungebrochenen Aufmerksamkeit: In Städten und Gemeinden Ungarns wird der Vogel wieder verstärkt in Form von Denkmälern und Skulpturen sowie in Kunstwerken dargestellt. Ebenso wurde er zu einem bedeutenden Motiv auf Souvenirs.
Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten: Der Stolz auf ihren mystischen Vogel wird den Ungarn zuweilen negativ ausgelegt – nämlich als rechts bis rechtsextrem. Ob dies tatsächlich so ist, dazu wird sich wohl jeder selbständig denkende Mensch eine eigene Meinung bilden können.
Mythen um den ungarischen Vogel
Es gibt mehrere Legenden, die sich um das ungarische Flugtier ranken, wobei die folgenden beiden Geschichten wohl am bekanntesten sind.
Traumvision von Emese
Emese erschien der Vogel im Traum – zusammen mit einem kristallklaren Bach, der sich gen Westen bewegte und zu einem mächtigen Fluss entwickelte. Der Traum stellt die Schwangerschaft der Emese symbolisch dar und soll bedeuten, dass aus ihrer Nachkommenschaft ein großes und mächtiges Volk hervorgehen würde – angekündigt und begleitet durch den Turul. Emese gebar Álmos, den Vater von Árpád, Führer der Magyaren und Gründer Ungarns. Dabei ist der Name Álmos eng mit der Vision von Emese verbunden: álom bedeutet Traum auf Ungarisch. Weiterhin wird spekuliert, dass es sich bei dem mächtigen Fluss, der sich im Traum von Emese entwickelte, um die Donau gehandelt haben mag.
Ungarische Landnahme
Der Turul soll wie ein himmlischer Führer über die Lande gezogen sein, um den Magyaren den Weg in die Region des heutigen Ungarns zu weisen. Aber damit alleine nicht genug. Auch soll das ungewöhnliche Lufttier die Magyaren auf ihrem Weg ans Ziel beschützt haben – durch das Abwehren von Angriffen durch Falken auf das ungarische Volk.
Hier ist der Turul auch in der Gegenwart zu Hause
Neben dem besonderen Platz, den der Turul in der Geschichte und Mythologie Ungarns einnimmt, hat er auch einen Platz im modernen Ungarn: Er ist nach wie vor in der ungarischen Heraldik zu finden – sowie in Form von Denkmälern und Skulpturen, die sich über das gesamte Land verteilen. Eine Übersicht zu seinen Standorten findet ihr hier. Besonders prominente Beispiele des Turuls als Denkmal oder Skulptur sind an den folgenden, zu Google Street View verlinkten Orten zu finden:
Freiheitsbrücke | Szabadság híd • Budapest
Beim Denkmal an den mystischen Vogel auf dem Steinberg – dem Kő-hegy in Tatabánya, der Hauptstadt des Komitats Komárom-Esztergom, gleich um die Ecke meines Weinberghäuschens – handelt es sich übrigens um die größte Turul-Statue Ungarns. Mit einer Flügelspannbreite von 15 Metern gilt sie außerdem als größte Vogelstatue Europas.
Und übrigens: Das Land Ungarn und seine Einwohner, die Ungarn, haben ihre Namen von ihren Nachbarn im Westen Europas erhalten. Sie leiteten das Wort Ungarn von einem Reitervolk ab, das im 9. Jahrhundert in etwa Zeitgleich mit den Magyaren im Karpatenbecken eintraf. Bei diesem Reitervolk handelte es sich um die Onoguren, die jedoch nicht in Westsibirien, sondern ursprünglich am Nordostrand des Schwarzen Meeres zu Hause waren. Ganz schön tricky, oder? Aber so kommt eben der große sprachliche Unterschied zustande – bei Ungarn und Magyarország, dem Land in Landessprache, sowie zwischen dem ungarischen Volk und dem gleichbedeutenden Wort Magyaren.
Zuletzt aktualisiert am 23. Oktober 2024 von Eva